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61st IFLA General Conference - Conference Proceedings - August 20-25, 1995

Vom Bibliothekar zum Cybrarian - die Zukunft des Berufs in der virtuellen Bibliothek

Claudia Lux, Library of the Senate of Berlin, Berlin, Germany


PAPER

In RTL - Zeichentricksendungen am frühen Sonntagmorgen werden die Kinder in die Welt der „Transformers“ entführt, Figuren , die sich ständig selbst verwandeln können und im Cybe rspace zu Hause sind. Mit dem Computer-Spiel Indiana Jones gehen Jugendliche und junge Erwachsene auf die Suche quer durch Kontinente und lösen Rätsel, zu denen sie auch ein Buch aus der v irtuellen Bibliothek der Indiana-Jones-Welt benötigen.

Durch Cyberspace-Maschinen ist es heute möglich - zumindest in Spielautomatenhallen wie im Cyberspace-Café in Berlin - für fünf Mark einen drei Minuten-Ausflug in die virtuel le Welt zu erleben. Real angeschallt in einer Maschine, läuft man im virtuellen Raum auf schmalen Plattformen und Treppen entlang, immer darauf bedacht, nicht ins unendliche All zu stürz en. Über Mikrophon kann man mit Partnern in anderen Maschinen kommunizieren und gemeinsam dem Angriff eines Weltraumvogels ausweichen.

Bringen moderne Informationstechniken uns Bibliothekare schrittweise in eine solche virtuelle Welt und werden wir uns selbst demnächst im Cyberspace bewegen? Visionen über die Zukunft des bibliothekarischen Berufs, wie sie in den USA und jetzt auch bei uns diskutiert werden, malen ähnliche Bilder für Bibliothekare an die Wand.

Vor uns liegt ein Weg, der von der traditionellen über die automatisierte und die elektronische Bibliothek hin zur virtuellen Bibliothek führen wird. In diesem Prozeß zeichnen sic h für die einzelnen Etappen verschiedene Veränderungen für unseren Beruf ab.

Von der traditionellen zur virtuellen Bibliothek

Die traditionelle Bibliothek

In einer traditionellen Bibliothek spüren wir heute deutlicher als je zuvor die örtliche Abhängigkeit und die wenig effektive Organisation, mit der versucht wird, die Papierberge, die die Informationsexplosion uns beschert, zu bewältigen.

Bei anhaltendem Wachstum der Veröffentlichungen auf Papier erscheint es in Zukunft immer weniger möglich, alle relevanten Veröffentlichungen zu sammeln - sei es wegen des zu geringen E tats, des fehlenden Personals, des Mangels an Raum. Auswahl und Beschränkung auf die großen Verlage und die Bestseller ist angesagt und viele Bibliotheken sind heute weit davon entfernt, d as sachlich Notwendige sammeln und ausleihen zu können.

Es wächst das Gefühl, daß die Aufgaben nicht mehr zu schaffen sind. Die Belastung der Kolleginnen und Kollegen in Erwerbung, Katalogisierung und Benutzung soll deshalb durch die automatisierte Bibliothek reduziert werden.

Die automatisierte Bibliothek

Manche Bibliothekare empfinden bei dem Schritt in die automatisierte Welt zunächst weit mehr Belastung als durch Literaturmengen und Benutzeranforderungen. Sie fühlen sich überfordert, da zusätzlich zu traditionellen Tätigkeiten integrierte Bibliothekssysteme, Datenbanken und CD-ROM eingesetzt werden.

Der Umgang mit diesen Instrumenten muß erlernt werden. Jüngere Kollegen und Kunden wissen häufig besser Bescheid als die noch traditionell ausgebildeten Bibliothekare. Berufserfahru ng ist nur noch bedingt relevant und Anpassung an immer neue Systeme, Oberflächen und Dateien täglich erforderlich.

Dennoch werden in der automatisierten Bibliothek weiterhin die gleichen Dinge wie in der traditionellen Bibliothek , allerdings effektiver und mit verringerter örtlicher Abhängigkeit, ausg eführt.

Die elektronische Bibliothek

Moderne Informationstechniken ermöglichen heute den Schritt von der automatisierten zur elektronischen Bibliothek. Diese erfordert erhebliche Veränderungen von uns als Bibliothekare, denn h ier sollen andere, bessere Dinge in örtlicher Ungebundenheit getan werden. (1)

Unabhängig von Ort und Zeit kann diese Bibliothek durch elektronische Netze dem Kunden die benötigten Materialien zukommen lassen. Zunehmend werden elektronische Medien deutlich mehr als g edruckte Medien die Tätigkeit in dieser Bibliothek bestimmen. Die elektronische Bibliothek gilt deshalb als Brücke zur Vergangenheit und als Tor zur Zukunft (2).

Eine Brücke zur Vergangenheit ist die elektronische Bibliothek, weil sie noch mit Gedrucktem arbeitet und daher noch Papier (Kopien) produziert. So steht in der Anleitung zur Benutzung von R ight Pages, dem elektronischen Zeitschriftendienst von Springer nach den Anweisungen : „Beachte die Neuerscheinungen!“
„Gehe zur Information!“
„Sortier sie Dir!“
die lapidare Zeile: „Mach eine Papierkopie!“

Die elektronische Bibliothek wird die Vielfalt der elektronischen und der gedruckten Medien beherrschen müssen, sie ist eine Herausforderung an den bibliothekarischen Berufsstand, der die Vorhe rrschaft der elektronischen Medien schrittweise akzeptieren muß.

Die elektronische Bibliothek ist auch ein Tor zur Zukunft, weil sie die virtuelle Bibliothek vorbereitet.

Die virtuelle Bibliothek.

Eine virtuelle Bibliothek hat virtuelle Bücher für reale Nutzer, sie ist an jedem Ort
zu jeder Zeit
für jedermann
erreichbar. (3)

Von einem PC zu Hause wählt sich der Benutzer in den virtuellen Katalog ein und erfährt, daß das elektronische Dokument , das er sucht, in der virtuellen Bibliothek von Ulan-Bator zu finden ist. Er bestellt es und es wird auf elektronischem Weg sogleich in seinen PC geschickt.

Die virtuelle Bibliothek ist örtlich ungebunden, sie wird als Bibliothek ohne Mauern, ohne Wände bezeichnet . Sie kann bessere Dienstleistungen erbringen als die elektronische Bibliothek un d es stellt sich die Frage, ob diese virtuelle Bibliothek noch verwaltet werden muß. Von einer Bibliothekarin in einer virtuellen Bibliothek ist keine Rede mehr.

Spürbare Veränderungen für den bibliothekarischen Beruf

Während sich viele Bibliotheken in Deutschland heute in einem Stadium zwischen der traditionellen und der automatisierten Bibliothek befinden, mit starker Tendenz zur automatisierten Bibliothe k, sind einige Bibliothekare zumindest in Teilbereichen in das dritte Stadium - in die elektronische Bibliothek - vorgedrungen.

Ihre Arbeit hat sich schon verändert. Sie arbeiten mit elektronischen Datenbanken, handhaben Online-Bestellungen und E-Mail-Anfragen oder verbringen einen Teil ihres Lebens schon im Internet, w o sie von Gopher, Archie oder Veronica an die Hand genommen werden - eine Art automatisierte Heilsarmee des Internet, die auf den rechten Weg führen soll.

Im Übergang zu diesen Stadien verspüren alle bibliothekarischen Gruppen die beruflichen Veränderungen:

Der höhere Dienst sieht sich überflüssig gemacht durch die Übernahme der sachlichen Erschließung , durch erste Tendenzen zur automatisierten Indexierung und durch fehlertole rante Benutzeroberflächen bei der Informationsvermittlung.

Der gehobene Dienst beklagt die Separation neuer Ausbildungsinhalte in eigene Studiengänge, die er in das eigene Berufsbild eingeschlossen haben möchte. Die Diplombibliothekare möchte n Informationsspezialisten werden, sie möchten selbst die Informationsbanken erstellen und pflegen können, die Informationsnutzung an Kunden lehren und vermitteln. Zusätzlich fordern s ie, die notwendigen betriebswirtschaftlichen Kenntnisse zu erlernen. (4)

Der mittlere Dienst sieht, daß er schrittweise Aufgaben übernimmt, die früher dem gehobenen Dienst vorbehalten waren, ohne daß er dafür eine bessere Vergütung erhä ;lt und daß immer mehr seiner bisherigen Aufgaben vollständig automatisiert werden.

Es spiegelt sich deutlich eine tiefgehende Veränderung der Werte, der einmal festgelegten Strukturen wider. Der Wandel wird verstärkt, da jede Gruppe nun ihre neue oder überhaupt eine Position in der zukünftigen elektronischen Bibliothek sucht.

Technologische Entwicklung sollte immer nur ein Mittel sein, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Es fragt sich daher: Was wollen wir Bibliothekare? Was ist unser Ziel in diesem veränderten Umfeld?

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort die richtige Information (als Text, Bild, Ton ) an jeden der sie benötigt zu vermitteln, ist ein traditionelles und gleichzeitig auch ein zukünftiges Zi el für Bibliothekare.

Das mag bedeuten, daß wir die schriftliche Kultur der Welt als virtuelles Buch oder Dokument speichern und bei Bedarf zur Verfügung stellen wollen. Ziel der virtuellen Bibliothek ist es, die Informationsbedürfnisse des Menschen voll zu befriedigen - an jedem Ort, zu jeder Zeit, für jedermann.

Dies unterscheidet sich nicht grundsätzlich von unserem traditionellen Ziel, es stellt uns allerdings vor die Frage, wie und ob man die elektronischen Veröffentlichungen und die Information en sammelt, die heute nur noch als Dateien auf Hosts vorhanden sind und über die Netze, vor allem über das Internet, verteilt werden.

Deutlich zeigen sich die grundsätzlichen Neuerungen für unseren Beruf im Übergang von der traditionellen zur elektronischen Bibliothek, die auf uns zukommen:

Das Buch wird elektronisches Dokument, ein elektronisches Dokument, das vom Hersteller ( Autor) direkt an den Nutzer geht.

Die Katalogisierung wird ersetzt durch die automatische Speicherung und Erschließung des Textes, Kataloge durch selbsttätig erstellte elektronische Bibliographien.

Die Sachkatalogisierung wird erheblich verändert durch Hypertext und andere intelligente maschinelle Erschließungsmöglichkeiten.

Auskunft und Informationsvermittlung erhalten benutzerfreundliche Retrievalsysteme wie Knowledge Finder, ZynIndex u. a., welche auf der Grundlage von „fuzzy logic“ mit minimalen Kenntnissen eine qual itativ hochwertige Erschließung ermöglichen.

Die bibliothekarische Dienstleistung wird abgelöst durch die Selbstbedienung des Kunden.

Lokale Sammlungen sind rudimentär im Vergleich zu den Netzwerk-Magazinen, die weltweit Dokumente zur Verfügung stellen können, ohne Ausleihfristen und Mahnungen. Ohne uns um die Entwic klung einer eigenen Sammlung zu kümmern, recherchieren wir in den Netzen nach der gewünschten Information.

Ordnung in unserem bisherigen Sinn wird aufgehoben und die entstehende Komplexität wird nur noch beherrschbar durch entsprechende elektronische Werkzeuge.

Wenn der Übergang von der elektronischen zur virtuellen Bibliothek solche Veränderungen bringt, welche Aufgaben werden wir in unserem Beruf in Zukunft noch haben? Darüber wird zur Zeit allerorten heftig spekuliert und dies hier sind einige Ergebnisse der Spekulationen, wie sie vorwiegend in der amerikanischen Fachliteratur zu finden sind:

Sammler und Jäger in elektronischen Informationsnetzen.

Elektronische Texte und Informationen aus dem Internet sammeln und nach ihnen jagen, - vielleicht eine Tätigkeit für uns, die uns weit in die Vergangenheit zurück’beamt’. Dort liegen unsere Wurzeln - zumindest die aller Erwerbungsbibliothekare.

Rettungsschwimmer in elektronischen Informationsnetzen oder Navigator.

Eine schöne Vision für die Aufwertung unseres Dienstleistungsberufes, die Reg Pringle sich da ausgedacht hat (5): Die Bibliothekarin als Rettungsschwimmerin für Studenten, damit diese den Kopf im Meer der Informationen über Wasser halten können. Als Navigator sollen wir die elektronischen Weltenmeere befahren helfen, vor Orientierungsverlust bewahren.

Netzknigge

Als Netzknigge werden Bibliothekare wie Pädagogen und Erzieher genutzt. Unsere Aufgabe ist es dann, den Teilnehmern im Netz ein angemessenes Verhalten zu vermitteln, die sogenannte „Netiquette“.

Zensor oder Info-TÜV

Als Zensor wollen wir uns eigentlich nicht anbieten, aber es gibt solche Erwartungen an die Bibliothekare, zumindest sollen sie eine Art Informations-TÜV ausüben. Damit soll nicht nur Spreu von Weizen getrennt, es soll auch zensiert und selektiert werden, was nichts im weltweiten Informationsnetz zu suchen hat. Sieht man sich das Internet an, so erscheint dies als ein hilfloser Versuc h, der aus der Nichtbeherrschbarkeit des Informationschaos gezogen wird.

Dennoch wird von vielen Informationspezialisten eine Qualitätsselektion durch Bibliothekare erhofft, da diese das in ihrem Beruf erlernt haben. So könnten wir Hoffnung schöpfen, da&szl ig; wir noch dafür gebraucht werden?

Koordinator

Der Bibliothekar wird gewandelt oder ersetzt durch den Koordinator für elektronische Informationsquellen - ein neues reales Berufsbild, an dem einige Ausbildungsinstitutionen sich heute schon o rientieren. Ein Koordinator soll strukturieren und erschließen.

Viele dieser futuristischen Visionen entsprechen der Vorstellung von einer Bibliothekarin als guter alter Ordnungskraft. Ordnung schaffen, wo andere, Autoren und ihre Leser, im Internet Chaos produzi eren. Und dies zu einem Zeitpunkt, da die Bibliothekare gerade hofften, mit der automatisierten Bibliothek das Ordnen endgültig den Computern übertragen zu können.

Es herrscht schon Informationsexplosion, Informationschaos in den elektronischen Netzen. Eine neue Dimension von Ordnung, die wenig mit der herkömmlichen vergleichbar ist, wird entstehen. Die R etterin, die Bibliothekarin soll die Rolle der Ordnungsfunktion in der virtuellen Informationswelt übernehmen. Sie soll die Informationen analysieren, ein kontrolliertes Informationsnetzwerk au fbauen, virtuelle Informationswelten sichten und bewahren und nach ihnen recherchieren.

„Der Bibliothekar soll die Wegweiser im Infodschungel für den Benutzer aufstellen, damit diese navigieren können“ (6). Noch sind es vorwiegend Bibliothekare, die solche Ordnungsaufgaben als Vision des zukünftigen Berufsbild haben. Aber auch Wissenschaftler verschiedener Disziplinen erwarten von den Bibliothekaren die Übernahme der ordnenden Funktionen im Internet.

Diese Ordnungsfunktion auszuüben wird allerdings von einigen Autoren für sehr schwierig, wenn nicht unmöglich gehalten; denn „im Unterschied zur physikalischen Raum-Zeit-Dimension ist Cyberspace qua definition unbegrenzt. Unsere Versuche das Territorium zu zähmen werden immer durch menschliche Kreativität und Kommunikation übertroffen“(7).

Michel Bauwens schuf im vergangenen Jahr den „Cybrarian“, um die neuen Funktionen des „Librarian“ zu beschreiben, der in seiner virtuellen Bibliothek alle benötigten Informationen aus dem Netz für seine Kunden beschafft. Die Bibliothekare einer sogenannten „Cybrary“ operieren im Cyberspace miteinander - im Team mit anderen über das lokale Netz und im Internet mit Informationsbes chaffern weltweit. (8)

Die Welt des Cyberspace hat auch für die Geschäftspartner der Bibliotheken durchaus Realität. So erfand Heinisch die Cyber-Lib für den zukünftigen Benutzer, der - oh welche F reude - zunächst noch im Bibliotheksgebäude einen Spezialraum aufsucht, wo er sich im virtuellen Raum am virtuellen Strand mit Wellenrauschen (und Sonnenschein) ein Buch aus dem „Regal“ neh men kann und sich als direkter, mitwirkender Teilnehmer in Datenbanken bewegt (9) - wie eben im Cyberspace-Café in Berlin auf virtuellen Plattformen. Für diese Vision darf noch die Bibli othek die Strukturen zur Verfügung stellen, eine Vision, die den Schritt von der elektronischen zur virtuellen Bibliothek verdeutlicht - obwohl ihre Realisierbarkeit noch ebenso wie die Vision s elbst erst in den Anfängen steckt.

Die Amerikanerin Sylvia Piggot sieht da eher schon virtuelle Welten, die mit Kreaturen bestückt sind, mit denen der Mensch agieren und kommunizieren kann, so daß es in Zukunft einen kü ;nstlichen Bibliothekar in einer virtuellen Welt geben wird. (10)

Entwicklung neuer Fähigkeiten

Viele Überlegungen dieser Art werden von der Hoffnung getragen, Ordnung in das tatsächliche Chaos der virtuellen Informationswelt bringen zu können. Der Ruf nach Ordnung entsteht auch durch die Komplexität der elektronischen Netze mit ihren unendlichen Informationswelten, die auch vielen Wissenschaftlern heute nicht mehr beherrschbar erscheinen, zumindest nicht mit den bisher zugänglichen Instrumenten.

„Jede Zeit hat ihre Werkzeuge“, denn Menschen suchen immer nach neuen Werkzeugen. In der Steinzeit, als unsere intellektuellen Fähigkeiten ausgebaut wurden, war das Gehirn des Neandertalers sein en damaligen Steinwerkzeugen angepaßt. Unser heutiges Menschengehirn hat neue, elektronische Werkzeuge entwickelt, wie den Newton-PAD. Und die Miniaturisierung der Computer wird soweit fortschr eiten, daß es bald kein Problem mehr sein wird, das elektronische Buch am Strand und im Bett zu lesen, mit einem Gewicht leichter als ein Taschenbuch und den Möglichkeiten mit Sprache und Tastsinn Zugriff auf weltweite Datenbanken und Kommunikation zu haben.

Trotz dieser technischen Entwicklung versuchen wir weiterhin mit linearer Logik diese Komplexität zu beherrschen, und weil wir dies tun, entsteht der Eindruck von Chaos für uns. Wir mü ssen selbst neue Werkzeuge entwickeln, die uns das Chaos und die Informationsmenge beherrschen helfen, da Ordnung in unserem bisherigen Sinn aufgehoben wird.

Komplexität wird heute beherrschbar durch neue philosophische und mathematische Grundlagen wie „fuzzy logic“. Auf neuer komplexer Grundlage müssen ebenfalls die entsprechenden elektronische n „Ordnungs-Werkzeuge“ entwickelt werden, wie es in Ansätzen heute schon stattfindet.

Doch bis es soweit ist, daß das menschliche Gehirn durch die Evolution unsere Sinne und Erkenntnisse für diese Komplexität aufnahmebereit wird, können wir nicht fortfahren wie b isher. Die intellektuelle und die mentale Veränderung müssen die Bibliothekare selbst verstärkt in die Hand nehmen, um den Beruf den Entwicklungen anpassen zu können. Fast nichts von dem, was wir jetzt brauchen, haben wir in der Schule gelernt; erst die zukünftigen Kolleginnen und Kollegen werden diese Fähigkeiten oder Werkzeuge - hoffentlich - mitbringen.

Es bedarf daher erhebliche intellektuelle und mentale Veränderungen im bibliothekarischen Beruf, neue Fähigkeiten müssen sich herausbilden und eine mentale Akzeptanz für diese Ent wicklung muß sich ausbreiten.

Mit dieser Aufgabe stehen wir Bibliothekare nicht allein, denn in allen Bereichen unserer Gesellschaft spielen sich diese grundsätzlichen Veränderungen ab. In den USA spricht man heute von einer Krise der Grundfähigkeiten wie Lesen und Schreiben:

Man benötigt heute Arbeitskräfte, die nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen beherrschen, zusätzlich müssen sie - und dies ist fast noch wichtiger - folgende Befähig ung besitzen:

- Sich Veränderungen laufend anpassen können, - Neue Ideen aufnehmen können - Ideen mit anderen teilen können (11)

Drei wichtige Elemente, die für uns bedeuten, daß:

- der Top-Programmierer in Bibliothek und Verbund, der alles selbst entwickelt,

- die wissenschaftliche Bibliothekarin, die einsam über ihrem neuen Schlagwort

brütet,

- der perfekte Katalogisierer, der isoliert die richtige RAK-Aufnahme macht,

- die Auskunftsbibliothekarin, die allein weiß, was der Benutzer wirklich will

zu den aussterbenden Spezies gehören müssen.

Wie unsere amerikanischen Kolleginnen schon längst festgestellt haben: „ The lone ranger is obsolent“(12). Eine Weisheit, die man international im Management der Großindustrie ebenfalls s eit einiger Zeit zu beherzigen versucht.

Daher sollten wir in unseren Berufsbildern für die Berufswahl neuer Kolleginnen und Kollegen solche Fähigkeiten fordern, uns selbst darin schulen und es nach außen als Qualität d er Bibliothekare verkaufen, daß sie:

Probleme analysieren und lösen können,

kooperativ mit anderen arbeiten können,

klar kommunizieren können (13).

Die zukünftigen Aufgaben unseres Berufes müssen aus den Visionen abgeleitet sein und mit diesen neuen Qualitäten erfüllt werden. Komplexes Denken erwartet von uns, die gegenwä ;rtigen Probleme der traditionellen Bibliothek ebenso zu beherrschen wie die virtuelle Bibliothek heute schon zu planen. Es verlangt von uns, alle Bibliotheks- und Informationstechniken zu unterst&uu ml;tzen , die unser Ziel bestärken, das Buch oder Dokument, den Text oder die Information an den Kunden bringen zu können - auch wenn wir dadurch selbst - in unserer traditionellen Rolle - überflüssig werden sollten.

Selbstbedienung zukünftiger Kunden ist ein Ziel solcher Visionen - Hilfe dabei ein zweites. Das bedeutet, Fähigkeiten des Cybrarian entwickeln, das Ziel der virtuellen Bibliothek bewuß ;t anstreben und Wege dahin öffnen und beschreiten.

Vielleicht verändern wir uns in dieser Entwicklung auch mental:

von ordnungsliebend und genau

hin zu

risikofreudig und kreativ!

Früher segelte man in die Neue Welt, während wir heute das Flugzeug bevorzugen. Die ersten fliegenden Atlantiküberquerer galten als Abenteuerer. Obwohl auch heute noch Einhandsegler de n Atlantik überqueren, erscheint uns - und dies ist eine mentale Veränderung - das Fliegen sicherer als das Segeln.

Vielleicht erscheint der zukünftigen Generation der Gang durch ein Magazin voll mit Büchern gefährlicher als die virtuelle Bibliothek! Zumindest wird sie es als sehr viel mühsamer ansehen.

Auf die modernen Informationstechniken, wie eine multimediale Umgebung im Internet, mit Bild, Video, Sprache und Telekommunikation müssen wir uns heute einstellen, wir müssen sie mental in den Griff bekommen, damit es uns nicht wie Boris Becker geht: er ist technisch meist okay, aber verliert, weil er mental nicht fit ist!

Es fragt sich, wie schnell wir uns anpassen müssen.

Kann es sein, daß schon

in 10 Jahren keine Kartenkataloge mehr existieren,

in 20 Jahren die totale Vernetzung realisiert ist,

in 30 Jahren die elektronischen Medien die Vorherrschaft haben,

in 40 Jahren alles elektronische gespeichert ist und wir

in 50 Jahren alle ‘Cybrarians’ sind?

Wahrscheinlich geht es nicht ganz so zügig, auch wenn Clive Bingley schon 1982 das Ende des Bibliotheksberufes angekündigt hat und Überlegungen angestellt werden müssen, ob der el ektronische End-user vielleicht tatsächlich unser „letzter“ Benutzer ist.

Noch haben wir Zeit, die intellektuellen und mentalen Fähigkeiten für die virtuelle Bibliothek zu erlernen! Es wird viele Behinderungen der Entwicklung zur elektronischen oder gar zur virtu ellen Bibliothek geben, und der Berufsstand der Bibliothekare trägt daran nur eine sehr geringe Verantwortung.

Rechtliche Probleme wie z.B. beim Copyright behindern den vollkommen freizügigen Umgang mit elektronischen Dokumenten. Politische Probleme sind Fragen nach der Sicherheit der elektronischen Netz e und Datenautobahnen. Völlig ungelöst erscheinen besonders in Deutschland die finanziellen Voraussetzungen für eine solche Entwicklung zu sein. Auch wissen wir heute noch nicht, welch e Technik überlebt oder welche bald musumsreif wird. Werden die ‘Inkunabeln’ der ersten elektronischen Dokumente später noch lesbar sein? Organisatorische Probleme entstehen, da das Informa tionsnetz Hierarchien aufbrechen könnte, die man erhalten wissen möchte. Neue organisatorische Abläufe sind zu lösen, ökonomische Marktinteressen im Netz werden zunehmend deu tlich und könnten auch hemmend wirken. Mentale Hindernisse brechen vor einer ganzen Generation auf - aber da lernen wir von unseren Kindern, den Nintendo-Kids, die sich in virtuellen Welten wie bei den ‘Transformers’ bestens auskennen und wohlfühlen.

Also ist zu den Visionen, die man aufstellt und die man nicht aus dem Auge verlieren sollte, deutlich mit Donald E. Riggs zu sagen: „Temper it with a strong dose of reality!“ (14)

Trotzdem erscheint es notwendig, daß die Bibliothekarinnen und Bibliothekare heute bewußt die neuen Entwicklungen organisatorisch, intellektuell und mental mittragen und mitgestalten, den n die dargestellten Veränderungen brauchen unsere Aktivität, bis sie sich vollständig durchgesetzt haben.

Gutenbergs Erfindung ist heute mehr als 500 Jahre alt. Kann es nicht sein, daß sich das Medium Buch in den nächsten 500 Jahren zu einem virtuellen Medium wandelt?

„In the year 2525

if man is still alive

if woman can survive

they may find...“ (15)

1) Boone, Morell D. : First ALCTS E-Library Institute Addresses Administrative Issues in New Information World in: Library Hi Tech News Jan/Febr. 1994 S. 26 -29 u. 37, darin über denVortrag von Michael K. Buckland S. 26/27

(2) Boone,a.a.O., darin über den Vortrag von D. Kaye Gapen S. 29

(3) Special Section: Annual Library Director’s Conference - Linking Multimedia Digital Libraries: the Changing Infrastructure, in: Information Technology and Libraries Vol. 12 , 2 ( June 1993) , Abs chnitt: Vinod Chadra,: Access Multimedia Information in Virtual Libraries S. ...2

(4) Chmielus, Claudia: Kommission Ausbildung und Beruf, in: VdDB, VDB Rundschreiben 1993/4, S. 4-5

(5) Parker, Richard: Vom Dokumentenverwalter zum Rettungsschwimmer in der Informationsflut: neue Techniken und das Berufsbild des britischen Fachreferenten, in : ABI-Technik 14, 1994 Nr. 1 S. 35 - 39 / (zu Reg Pringle S. 39)

(6) Lankenau, Irmgard und Georg Friedrich Schultheiß: Auswirkungen der modernen Informationstechnik auf das Dienstleistungsangebot von Bibliotheken und Dokumentationseinrichtungen , in : ABI-Te chnik 13, 1993, Nr. 4 S. 289 - 296, hier S. 296

(7) Bauwens, Michel : The Poor Man’s Internet: Reaching the Networks with E-mail only, in: Aslib Proceedings Vol. 45 No. 7/8 July/August 1993 S. 201-207 hier: S. 205

(8) Bauwens, Michel: The Emergence of the „Cybrarian“: a New Organisational Model for Corporate Libraries, in: Business Information Review 9 (4) April 1993 S. 65 - 67, hier: S. 67

(9) Heinisch, Christian: Cyber-Lib- Vision and Economic Analysis. Vortrag auf der Bielefelder Konferenz „Bibliotheksnetze und elektronische Medien. 8./9. Febr. 1994. Manuskript (engl. Fassung) S. 2

(10) Piggot, Sylvia E.A. : The Virtual Library: Almost there... In: Special Libraries, Fall 1993 , Vol. 84, Nr. 4, S. 206 - 212 , hier: S. 211

(11) Berney, Karen: Can Your Workers read?“ aus : Nation’s Business 76 : 26-32 ( October 1988) S. 27, zit. bei Guy St. Clair: The „New“ Literacy: Do Special Librarians have a Role? in: Special Libr aries Spring 1991, Vol. 82 Nr. 2 S. 99-105

(12) Boone, Morell D. : Cause 92: “Grasping the monumentum of the information age“ in: Library Hi Tech News , March 1993, S. 12-13 darin das Zitat aus dem Vortrag von Carole Barone S. 13

(13) Berney a.a.O.

(14) Riggs, Donald E. :Predicting the Library of the Future (Editorial) in: Library Hi Tech Vol.12. 1994 ,1

(15) Evans, R.(Text u. Musik): In the year 2525